Wand 5: MUSIQUE NON-STOP
Einen Höhepunkt der Ausstellung bildet die grossformatige Fotografie "Musique non stop", die Harald F. Müller vor einem zitronengelben Hintergrund inszeniert. In dieser Arbeit, die der Künstler als eines seiner Hauptwerke bezeichnet, verbinden sich ein Schallplattencover der deutschen Musikgruppe "Kraftwerk", zwei amerikanische Glühbirnen und der barocke Kirchenraum der Kartause Ittingen zu einem komplexen Vexierbild. Jedes Bildelement verweist auf einen bestimmten Aspekt der Bildproduktion im 21. Jahrhundert. So handelt es sich bei den Köpfen auf dem Schallplattencover der deutschen Musikgruppe Kraftwerk um ein frühes computergeneriertes Bild. Die amerikanische Grafikerin Rebecca Allen schuf 1986 für das Stück "Musique non stop" ein Musikvideo, in dem sie die Schädel der vier Musiker mit grossem Aufwand in ein bewegtes Computerbild überführte. Die weissen, drahtskelettartig gezeichneten Köpfe der Musiker stehen so für den Beginn einer technischen Entwicklung, die die Bildproduktion in den kommenden Jahren revolutionieren sollte. Heute sind künstlich animierte Figuren und Objekte in Computerspielen und Filmen von Abbildern realer Situationen kaum mehr zu unterscheiden.
Die schwarze Farbe des Covers bildet den idealen Hintergrund für zwei grosse Glühbirnen. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie die Erfindung der Lichtkörper vor über hundert Jahren die Vorstellung der Welt veränderte. Mit dem Einsatz von Glühbirnen konnten Dinge sichtbar gemacht werden, die bis dahin im Dunkeln geblieben waren. Die Nacht wurde zum Tag, und die Unabhängigkeit der Menschen erhöhte sich wesentlich. Aktuell ist in der Beleuchtungstechnologie ein weiterer Entwicklungssprung im Gang: Traditionelle Glühbirnen werden verdrängt durch LED-Leuchtkörper, die mit weniger Energie die Welt noch heller machen. Die durchsichtigen Glaskugeln mit Glühfaden sind bereits aus den Ladenregalen verschwunden und mit ihnen die offensichtliche Erfahrung, wie ein glühender Draht Licht erzeugt. Die beiden Glühbirnen haben also einen historischen Verweischarakter.
Auf dem schwarzen Untergrund liegend werden die Glühbirnen zu einem Reflektor, der die Linienzeichnung der Köpfe bricht und in dem sich der Aufnahmeraum, in diesem Fall die Kirche der Kartause Ittingen spiegelt. Die Wahl dieses Ortes ist ebenso wenig zufällig wie der Einsatz von Plattencover und Glühbirne. Harald F. Müller nutzt die barocke Kirche, um modellhaft die Erscheinung von Raum im Bild zu thematisieren. In der Barockzeit ermöglichte die Entwicklung der Mathematik den Bau von komplexeren Raumschalen. Der Chorraum in der Kartause Ittingen gehört zwar nicht zu den besonders raffinierten Konstruktionen der Zeit, lässt aber dennoch die damals beliebte Idee des theatralisch bewegten Raums eindrücklich nachvollziehen. Harald F. Müller übersteigert diese Vorstellung durch die Spiegelung des Chors in den Glaskugeln der Glühbirnen. Die Geometrie der Kugel verdoppelt, ja, verdreifacht dabei die Architekturelemente, sodass der Blick in die Glaskugel eine geradezu rauschhafte Raumerfahrung erzeugt. Fenster, Pfeiler, Kuppeln und Kirchenausstattung finden zu einem irrlichternden Raumtanz zusammen, der die reale Situation ekstatisch überhöht. Die Fotografie des Gewölbes durch die Linse der Glaskugel verwandelt dieses zu einer Vision eines Raums, der die gebaute Wirklichkeit in seiner Komplexität weit übertrifft.
Harald F. Müller hat die Ittinger Klosterkirche aber nicht nur wegen der architektonischen Qualitäten ausgewählt. Mit dem Bild der Kirche verweist er auf religiöses Denken in einem umfassenderen Sinn. Menschliche Gesellschaften schaffen in Religionen Erklärungssysteme für die Existenz überhaupt. In solchen Denk-, Handlungs- und Glaubenssystemen werden die Fragen nach der der Entstehung der Welt, dem Sinn des Lebens und den Regeln des Zusammenlebens gestellt. Mit dem Bild der Kirche verweist der Künstler auf das grundlegende Bedürfnis der Menschen, ihrer Existenz Bedeutung zu verleihen, ein Begehren, das weit über das Religiöse hinausreicht. Damit schliesst sich der Kreis zur Gruppe "Kraftwerk", deren Musik und Performance aus einer ganz anderen Perspektive auch Sinn oder vielleicht dessen Gegenteil, nämlich Unsinn thematisiert. In ihrer Kombination provozieren die drei Bildelemente - Schallplattencover, Glühbirne und Kirchenraum - eine Auseinandersetzung mit einer der Grundfragen der ästhetik. Gefragt wird nach den Beziehungen von Bild, Wirklichkeit, Wahrnehmung und der Erzeugung von Sinn. Schallplattencover, Glühbirnen und Kirchenraum verweisen auf je unterschiedliche Realitäten und Sinnkonstruktionen: Die Schallplattenhülle steht für akustische Sinneseindrücke und die künstliche Hervorbringung von Wirklichkeit. Die Glühbirnen verweisen darauf, dass ohne Licht nichts gesehen werden kann, und der Kirchenraum macht deutlich, dass Wahrnehmung und Erfahrung immer räumlich sind, dass also alles Sehen, alles Hören, alles Sein sich im Raum abspielt, auch wenn die Werke von Harald F. Müller sich bildhaft präsentieren.
Markus Landert
Der Kunstwissenschaftler Oliver Grau betrachtet illusionistische Deckenmalereien in den Kirchen des Barock als virtuelle Realitäten ihrer Zeit.1) Als ein Beispiel dafür präsentiert die Rokoko Deckenmalerei der Kartause Ittingen einen illusionistischen Blick auf virtuelle Architekturen und Landschaften, die über den realen architektonischen Raum hinaus perspektivisch korrekt weitergeführt werden. Durch die Entdeckung der Elektrizität (angespielt durch die Glühbirnen in der Komposition) können mit heutigen Computern virtuelle Räume und Realitäten durch Virtual Reality Headsets immersiv erfahrbar gemacht werden. Ein frühes Experiment computergenierter 3D Formen im virtuellen Raum stellt das von der amerikanischen Künstlerin Rebecca Allen produzierte Video Musique Non-Stop 2) der deutschen Musikgruppe Kraftwerk dar, deren Gitternetzköpfe im Hintergrund der Bildkomposition zu sehen sind. Harald F. Müllers Komposition verbindet so über 200 Jahre technischer und künstlerischer Innovation in einem sinnlich erfahrbaren Bildarrangement.
Fabian Winkler
- 1) Für eine kurze Bildgeschichte von Virtueller Realität (VR) siehe: Grau, Oliver. „Into the Belly of the Image. Historical Aspects of Virtual Reality.“ Leonardo, Vol. 32 (5) (1999): 365-371.
- 2) Allen, Rebecca. „Musique Non-Stop.“ Rebecca Allen - Work. Aufgerufen am 21. Januar 2020.